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Reflexion und aktive Bürgerschaft:

Einleitung eines Seminars im Rahmen des Projektes "Ort des Treffens"

29. August 2009, Hannover

Bodo von Plato

Beginnen wir diese kursorische Reflexion über die Freiheitsfähigkeit zum aktiven oder selbstbestimmten Bürger mit einigen Elementen, die wir dann im Gespräch untersuchen können. Das ist eigentlich das Ideal, unter dem die abendländische Entwicklung, philosophisch-politisch gesehen, einmal angetreten ist: Der Mensch möge die Fähigkeit gewinnen, so über sich selbst und die ihn umgebende Welt zu reflektieren, dass er diese Welt selber gestaltet und zu einer solchen macht, die er gerne bewohnen möchte, und sagen kann: "Ja, das ist meine Welt und ich bin ein Teil von ihr und ich bestimme sie mit."

Wir könnten es auch religiös sagen: Gott erwartet vom Menschen, dass er Schritt für Schritt zu seinem Mitarbeiter wird. Indem er sich seiner selbst bewusst wird, merkt er aber: Ich bin gar nicht mehr Teil dieser Welt, ich bin wie außerhalb ihrer, dadurch, dass ich von ihr Bewusstsein habe. Die Welt wird fremd, wir beginnen, uns zu fragen: "Was ist das eigentlich für eine Welt? Was mache ich eigentlich hier auf dieser Welt?", und dann vielleicht auch: "Was kann ich eigentlich beitragen dazu, dass die Welt zu einer solchen wird, zu der ich gerne ja sagen möchte?" Das sind die beiden Fragen des Projekts „Ort des Treffns“.

Bin ich nun nur Zuschauer und schaue sozusagen von draußen auf diese Welt und finde sie gut oder finde sie schlecht, verurteile sie und weiß vielleicht auch vieles besser und rufe von Außen, was man alles machen muss, damit sie besser wird? Oder bin ich Teil von ihr und bemerke, dass wir längst eingetreten sind, spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, dass wir längst eingetreten sind in eine Zeit, wo die Welt so ist, wie wir sie machen?

 

Das Prinzip Verantwortung

Ich möchte aufmerksam machen auf eines der fundamentalen Werke der, sagen wir mal, praktischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, eine kleine Rede, ein so genannter Mythos. Mythos ist nach Platon immer die noch nachvollziehbare Form, wie man sich eine Welt denken kann, ohne dass man sie beweisen könnte. Einen Mythos entwirft man dann, wenn ein Gedanke noch nicht ganz klar ist, das zu Sagende zu komplex ist und ein Bild möglich wird, denn ein Bild ist größer als ein Gedanke. Es hält aber einer scharfsinnigen Erkenntnisfrage mit "Warum?" und "Wieso?", nicht unbedingt stand. Aber der Mythos vermittelt doch ein in sich schlüssiges Bild. Und in seiner Arbeit "Zwischen Nichts und Ewigkeit" hat Hans Jonas einen kleinen Mythos entworfen vor dem Hintergrund der Frage nach der Unsterblichkeit. Ist eigentlich die Menschheit – das heißt also auch der Einzelne – unsterblich oder hat die Menschheit einen Beginn und dann auch ein Ende? Und was ist eigentlich dann? Wie ist das mit der Unsterblichkeit?

Und jetzt schreibt sich Hans Jonas nicht nur in eine religiöse oder esoterische oder spirituelle Tradition ein, sondern er schreibt sich ein in die behutsame, fragende, geistesgeschichtliche Linie, die geistesgeschichtliche Richtung, die besonders von Pico della Mirandola seit dem 15. Jahrhundert bestimmt worden ist. Dieses behutsame Fragen, wo man nicht sagt: "Der Mensch ist sterblich." oder "Der Mensch ist unsterblich", sondern: "Es hängt von ihm ab, ob er’s so oder so ist." Je nach dem, wie er sich denkt und wie er lebt, wird sich das eine oder das andere zeigen. Das eine würde jetzt heißen: "Er wird wie die Tiere", so sagt Pico della Mirandola, oder, das andere: "Er wird wie Gott." Menschsein ist aber gerade die Kategorie des Seins, in der man selber mitentscheidet, ob man Tier oder Gott wird. Der Mensch ist ein merkwürdiges, tierisch-göttliches Wesen, das selbst darüber zu entscheiden vermag, was es eigentlich wird. Wird es wie Gott, wird die Menschheit unsterblich, wird sie wie die Tiere, werden sie da sein eine gewisse Zeit und dann auch wieder vergehen und kein kontinuierliches Bewusstsein von sich selbst erreichen.

Vor dem Hintergrund dieser Frage der Unsterblichkeit entwickelt Hans Jonas seinen sogenannten "Mythos über den Menschen" (bei Suhrkamp erschienen unter dem Titel „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“) und spitzt ihn dann zu. - Alles was Hans Jonas eigentlich schreibt in seiner wesentlichen Schaffensepoche, das heißt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist von dem Eindruck von Auschwitz bestimmt. Er hat selbst seine Mutter dort verloren und den größten Teil seines Volkes, dieses Volkes, das eine der fruchtbarsten kulturellen, künstlerischen und geistigen Lebensformen der Menschheit hervorgebracht hat. - Und vor dem Hintergrund der Frage nach dem Gottesbegriff nach oder trotz Auschwitz entwirft er den Mythos vom Menschen, in dem er den Menschen diejenige Stelle einnehmen lässt, die früher die Allmacht Gottes einnahm.

Gott hat ja immer drei Eigenschaften, egal in welcher Tradition oder religiösen Richtung: Gott ist allmächtig - jedenfalls bei monotheistischen Religionen -, Gott ist allmächtig, Gott ist zweitens allwissend und Gott ist drittens gütig. Allwissend, allgütig und allmächtig - treffen nun diese drei zu, wieso hat er dann Auschwitz zugelassen, wo eine derartige Verachtung und Vernichtung des Menschen stattgefunden hat? Jonas stellt also diese Frage nach den göttlichen Qualitäten, ich verkürze, des Menschen vor dem Hintergrund von Auschwitz und kommt zu dem Schluss:

Seine Allwissenheit und seine Allgüte sind Gott immer noch eigen, seine Allmacht hat er zu Gunsten der menschlichen Freiheit aufgegeben und ist damit selbst zum werdenden Gott geworden. Christlich würde man vielleicht sagen, das vatergöttliche Prinzip hat sich in das sohnesgöttliche Prinzip verwandelt, denn Gott hat Teil am Schicksal der Menschheit. Gottes Existenz hängt jetzt – wie die ganze Welt, der Mensch selbst und jede Zivilisationsform – vom Menschen ab. Daraus schreibt Jonas dann später "Das Prinzip Verantwortung", eines der großen Werke, die unsere postmoderne Zivilgesellschaft begründen. Jeder, jeder einzelne  Mensch trägt selbst Verantwortung für die Welt, die wir haben.

 

Jetzt komme ich zurück zur Ausgangsfrage: Eine andere Reflexion, eine Reflexion, die uns erlaubt, mehr und mehr eine Welt hervorzubringen, von der wir sagen können: "Ja, diese Welt wollen wir." Jonas ist einer der großen Apostel der Freiheitlichkeit und Verantwortlichkeit des sich seiner selbst bewusst werdenden Menschen. Ich erwähne Hans Jonas, weil er wie kein anderer die Schärfe der Fragestellung nach der Eigenverantwortlichkeit aushält. So mancher Denker ist dieser Frage nicht ausgewichen, aber wenige haben so konstruktive, hoffnungsvolle, perspektivreiche Antworten versucht wie Hans Jonas und er hat dazu noch das Glück gehabt –  das leider auch nicht vielen Menschen zuteil wird, die große Ideen haben – er hat das Glück gehabt, dass sich keine fanatische Anhängerschaft um ihn gebildet hat!

Hans Jonas ist meines Erachtens einer der großen Reflektierer, die unsere neuere Zivilgesellschaft mitbegründeten, übrigens in Leibniz'scher Tradition. Leibniz, der ja hier eine Rolle spielt in Hannover, auch bei diesem Projekt von Shelley Sacks eine Rolle spielt, lebte für diese Frage "Warum lässt Gott eigentlich das Böse zu und wozu, wofür?". Und von Leibniz stammt ja dieses Zitat, das hier in allen Arbeiten vorkommt: "Wir leben in der bestmöglichen Welt." Aber was heißt das denn? Wir leben unter Umständen sogar mit Auschwitz in einer der besten möglichen Welten? Wir kommen im Gespräch darauf zurück.

 

Die Wiege der Reflexion – Darstellung und Nachahmung

In der Frage nach der Reflexion und Bürgerfähigkeit spielt die Freiheit des Menschen eine zentrale Rolle, die Freiheit, die an die Stelle der Allmacht Gottes tritt. „Anstelle Gottes der freie Mensch“: Ein Motto, das Rudolf Steiner, der einen fundamentalen Paradigmenwechsel im Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst vorgeschlagen hat, seiner ganzen Philosophie und Anthroposophie zugrunde legte. Anders als Hans Jonas wurden seine Ideen weniger breit und kaum akademisch rezipiert oder nur von kleinen Gruppen, die aber umso mehr daraus im praktischen Leben machen. Entscheidend für unsere Überlegungen hier ist dieses grundsätzliche, Steiner'sche Motto:

Anstelle Gottes der freie Mensch - dieser freie Mensch hat notwendig das Instrument oder die Fähigkeit der Reflexion auszubilden. Ohne sie geht das gar nicht, das Projekt der Weltschöpfung durch den freien Menschen! Die Wiege der Reflexion ist die Wiege des Abendlandes überhaupt. Und da sind zwei große Begriffe in dieser Wiege, die die Reflexion sozusagen begründen: Das ist einmal Mimesis, die Nachahmung, und Diegesis, das heißt: die Darstellung oder Erläuterung. Und diese beiden sind von Anfang an unser Denken prägend. Wir können sie auch gerne einfach auf Deutsch benutzen: Darstellung und Nachahmung. Sie stehen sozusagen am Beginn jeder Reflexion. Die Darstellung und die Nachahmung - ich hoffe, es erscheint Ihnen noch nicht sofort evident, warum das zwei absolut fundamentale Begriffe sind, ohne die wir ins Schleudern kommen müssen, wenn wir nach Reflexion und aktiver Bürgerschaft fragen.

Mit Darstellung wurde im alten Griechenland alles dasjenige bezeichnet, was wir als Folge der „Lesbarkeit der Welt“ hervorbringen. Lesbarkeit der Welt? Wir kommen an in der Welt, sie wirkt auf uns ein und wir lernen, sie zu lesen – wir lernen diese Welt zu entziffern, zu verstehen. Das fängt ja sofort an, wenn wir als Babys hier auf diese Welt kommen: Ich weiß noch genau, wie eines meiner Kinder geboren wurde und sofort nach der Abnabelung die Brust der Mutter suchte. Ein unglaubliches Geschehen! Woher wusste es das? Wieso suchte es? Es weiß etwas, wovon es noch nicht weiß. Es kann „lesen“. Noch ohne zu wissen – es kann darstellen, tun. Das ist Darstellung im antiken Sinne.

Und wenn wir dann langsam begreifen, was wir tun, dann kommt die Nachahmung ins Spiel. Das heißt, dass wir begreifen, was uns da eigentlich gegeben ist, indem wir es immer selber wieder versuchen zu sagen, die Lesbarkeit der Welt formulieren in unseren bewussten Taten und Schöpfungen. Und das ist das Zweite. Das ist Mimesis.

Wir sind, sobald wir geboren worden sind, immer in etwas und dieses Etwas spricht aus uns, so oder so, ob wir es verstehen oder nicht, es ist da und spricht (wirkt). Und das meinten die Alten mit Diegesis, mit diesem, das sich selbst darstellt. Das ist die Welt, die uns dann auffordert: "Sag mich nach!" Und das ist auch der ganz natürliche biografische Prozess, den jeder von uns durchgemacht hat. Wir sind das Gleiche und doch das Andere, aus unseren Eltern hervorgegangen, ihnen ähnlich und doch anders. Da kommt irgendetwas aus uns selbst raus (wie zum Beispiel, dass man gleich irgendwie sich ernähren möchte) und parallel dazu immer das Bedürfnis nachzuahmen (zu tun was die Eltern tun).

Reflexion setzt sich immer aus diesen beiden zusammen – Darstellung und Nachahmung, fusst auf dem einen (Darstellung), tut das andere (Nachahmung). Das Fragen nach sich selbst, die Identitätsfrage, die Selbsterkenntnis ist der beste (und schwierigste) Fall dieser Reflexion, denn da fragt das, was sich nicht kennt und doch existiert, nach sich selbst.

In Griechenland galt die Darstellung, als das Ursprüngliche, mehr als die Nachahmung, die darauf folgte. Das Epos, also die lange Erzählung über die Dinge, Wesen und Vorgänge, das war die höchste Kategorie des künstlerischen Ausdrucks! Das Drama dagegen, in dem Personen auftreten, die bestimmte Dinge selber sagen, also nachahmen, galt als weniger wertvoll. Im Epos möchte die Welt sich als solche aussprechen und der sie Aussprechende tritt hinter ihr zurück. Im Drama spricht sich der Betroffene selbst aus und steht im Vordergrund. Und das ist eigentlich die höchste Bürgertugend: Etwas aussprechen können, wie es an sich ist, nicht wie ich es gerade finde.

Wir haben diese Tugend zum Beispiel alle, wie ich vermute, bei Menschen erlebt wie Ralf Dahrendorff, der jetzt gerade verstorben ist. Wenn man irgendeine große Frage hatte über unsere jetzige Demokratie und Bürgerrechte, fragte man Ralf Dahrendorf. Das war ganz klar, weil er einfach in einer so profunden Art nicht nur über die Welt nachgedacht hatte, sondern auch eine Möglichkeit hatte, sie so zu sagen, dass er immer selbst hinter dem, was er sagte, zurücktrat, aber eine Lebbarkeit mit und in den Problemen der heutigen Welt möglich wurde. Diese Kraft, diese Gabe hatte er. Deshalb fragte man ihn, hörte ihm gerne zu. Natürlich gab er keine Lösungen, deshalb fragte man ihn auch, weil man wusste, dass er längst weiß, dass man unsere heutigen Probleme eben nicht einfach lösen kann. Aber sie sagen, sie formulieren, zu versuchen, eine Beschreibung zu liefern, die lohnt, in der der Mensch wieder seine Würde gewinnt, das konnte er. Das ist eine hohe Bürgerqualität, die Ralf Dahrendorf besaß.

 

Schöpferische Reflexion – die neue Würde

Mit anderen Worten, ich nehme Dahrendorf nur als Beispiel für die, die in unserer Zivilgesellschaft etwas repräsentieren. Wer sind das? Nicht unbedingt die gewählten Volksvertreter einer Demokratie. Sondern Menschen, die zugleich sich selbst in den Hintergrund bringen, nicht Selbstdarsteller sind, sondern Welt darstellen und doch selbst als Person sich profiliert haben durch ihr besonderes Sein.

Helmut Schmidt beispielsweise hat heute möglicherweise mehr Bedeutung als zu Zeiten, als er Kanzler war, er ist einer derjenigen, die unsere heutige bundesrepublikanische Gesellschaft absolut prägen. Marion Dönhoff war so jemand. Egal, welches Problem auftauchte in der Zivilgesellschaft, sie äußerte sich dazu. Oder Heinrich Böll, das gehört so zu meiner Generation, in den 1960er/1970er Jahren aufgewachsen, da merkte ich, der wird zum Gewissen der Nation. Wenn er was schreibt oder sagt, das hatte Gewicht. Oder Max Frisch – ja, die eigentlich kulturschaffenden Menschen, die uns Maßstab sind für die Kultur, für die Welt, in der wir leben. Ihnen gelingt es uns anzuregen, dass man möglichst mehr darüber nachdenkt, wie die Welt eigentlich ist und was meine Rolle darin eigentlich ist! Das ist der Begriff des Bürgers heute, dessen, der fähig ist, über sich selbst und seine Rolle in der Welt kritisch und schöpferisch zugleich nachzudenken, das heißt, die Welt lesen zu wollen und in der Nachahmung der Welt mehr und mehr eine Welt hervorzubringen, die nur von ihm so geschaffen werden kann.

In dem Moment, wo wir den Mut haben, unsere Lesart der Welt zu reflektieren und sie nicht für die einzig mögliche halten, doch aber mit unserem ganzen Leben dafür einstehen, beginnt die freie Bürgerschaft.

Das heißt, so lange ich glaube, ich bilde die Welt in der einzig wahren („objektiven“) Art ab, so lange wird, glaube ich, meine Welt nicht die Einmaligkeit haben, die sie eigentlich haben kann, obwohl ich mich ganz originell fühle. Ich bleibe irgendwie – in der Sprache der Griechen – ein mimetisches Wesen, ein nachahmendes Wesen. Wann wird aber dieses Nachahmen zu einem eigenen Ausdruck? Dann, wenn in meinem Eigensein nicht nur ich, sondern die Welt als solche zum Ausdruck kommt, wenn ich ihr den Platz lasse. Dann wird jeder einzelne Mensch zu einer Welt, die zugleich er selbst und zugleich die Welt als solche ist. Das ist eine neue Art der Würde, die darin besteht, dass jeder eine Welt ist. Und das Miteinanderleben, Miteinanderumgehen dieser so unterschiedlichen Welten bildet eine Zivilgesellschaft, wie wir sie ideologisch nie vorgedacht haben.

 

Das Unprogrammatische aktiver Bürgerschaft – Soziale Plastik

Und damit komme ich zum Ende dieser kleinen Einleitung, mit der wir das Gespräch beginnen können. Ich habe den Eindruck, dass wir eine faszinierende, gefährliche, aber lohnende Zeit miterleben, dass wir Teil außerordentlicher Entwicklungen sind, nämlich, dass wir zunehmend in Gesellschaften leben werden, die wir nicht programmatisch (ideologisch) vorgedacht haben. Keine Gesellschaften, in denen wir schon vorher wissen, so und so muss das sein, weil das gut ist – das werden immer totalitäre Systeme, früher oder später. Und der real existierende Sozialismus ist das traurigste Beispiel dafür – da hat man gedacht, Systeme bemüht, hat Hegel benutzt und Nietzsche benutzt und wen nicht alles benutzt, um irgendwie eine Gesellschaft auszudenken, und sie dann mit Gewalt installiert und es war grauenvoll, es war schlicht und einfach grauenvoll. Und so gibt es ja viele andere Ideologien, wie die Welt sein müsste, dreigegliedert oder ökologisch oder sozial, alles das wird früher oder später grauenvoll, denn es sind Entwürfe, die vorwegnehmen, was dann sein soll.

Die Reflexion aber geht anders vor. Die Reflexion lebt mit einer hohen Bereitschaft für das, was sich jetzt ereignet, nimmt das dann immer wieder durch mit der Frage: "Was hast Du jetzt gesagt? Was meinst Du eigentlich? Wollen wir das wirklich so haben? Wir machen den nächsten Schritt anders, warum machen wir ihn anders?" Das Leben wird zu einer „permanenten Konferenz“, zu einem dauernden Gespräch, in dem der eine den anderen beginnt ernst zu nehmen. Diese Zivilgesellschaft, liebe Freunde – und das finde ich eine unglaubliche Entwicklung in den letzten 30 Jahren! –, hat sich ohne ideologisch vorgedacht zu sein immer mehr entfaltet. Sie lebt in den ganzen Nichtregierungsorganisationen, in den unterschiedlichen kleinen, mittleren und größeren kulturellen, religiösen, interkulturellen, interreligiösen, spirituellen, sozialen, politischen Gruppierungen, Grüppchen. Und dieses gewaltige Webwerk, das da unprogrammatisch entstanden ist, ist zugleich Aufgabe und Ziel dessen, was  Beuys Soziale Plastik nannte. Das zu bemerken, sichtbar werden zu lassen und zu verstärken ist vielleicht eines seiner größten Ziele gewesen! Wir sind längst in etwas eingetreten, das eine unglaubliche, freie Potenz in sich birgt, ohne dass der Mensch Gott verleugnen muss und ohne dass er selbst so wie Gott werden will, sondern einfach durch ein reflektiertes, aufmerksames Umgehen mit dem, was wir vorgefunden haben und was wir immer mehr verwandeln und selbst hervorbringen.

 

Von der Erinnerung zu Referenzen – neue Partnerschaft

Diese Reflexion hat immer einen Partner, besser: eine Partnerin – die Erinnerung (über die Urs Pohlman nachher ja noch beitragen wird). Reflexion entsteht nicht ohne eine kulturelle, eine kollektive Erinnerung. Wir müssen gemeinsame Bezugspunkte haben. Ich muss sagen können: Hans Jonas, Steiner, Beuys – dann wissen die meisten von Ihnen, worauf ich mich beziehe. Sie haben das "Prinzip Verantwortung" gelesen, kennen seinen „Gottesbegriff nach Auschwitz“, wissen von der Sozialen Dreigliederung und der wunderbaren spirituellen Praxis nach Steiners Anregungen oder haben Beuys Arbeiten gesehen und seinen Erweiterten Kunstbegriff aufgenommen. Und wenn nicht, dann haben Sie heutzutage sofort die Möglichkeit, noch jetzt gleich in der nächsten Pause, in Ihrem i-Phone bei Wikipedia Jonas, Steiner oder Beuys einzugeben und Bescheid zu wissen. Wissen ist demokratisiert, jedem zugänglich. Früher konnte man sich nicht über große, aber auch umstrittene Kulturschaffende mal schnell informieren. Da musste man Glück haben und den Professor finden, der wiederum Jonas, Steiner oder Beuys lehrte, usw. Das ist heute unglaublich einfach geworden. In der Wissensgesellschaft haben wir die Möglichkeit, das sich jeder sein Urteil bilden kann, wenn er will – wenn er will! So Vieles liegt in diesem eigenen Willen, er ist so mächtig! Jeder von Ihnen kann heute Abend zu Hause nachgucken: Wieso findet der Redner Hans Jonas oder Rudolf Steiner oder Joseph Beuys so wichtig? Und dann können Sie selbst entscheiden, ob sie das teilen, sie finden sogleich Wege, um die Frage nach einer ersten Information zu vertiefen.

Und mit jedem Nachschauen, mit jedem Lernen heben Sie etwas aus dem Erinnerungsschatz einer gemeinsamen menschheitlichen Kultur. Diese Erinnerung ist alles andere als beliebig, sie ist geordnet. Da finden wir zu jeder Frage die dazugehörigen Menschen und in dem Moment, wo wir nachdenken über Reflexion und den Zusammenhang mit dem freien, die Welt selbst gestaltenden Bürger, vor dem Hintergrund der Leibniz'schen Sentenz: "Wir leben in der besten möglichen Welt", dann kommen wir einfach zu manchen Menschen, die so darüber nachgedacht oder gearbeitet haben, dass sie für uns auch wichtig werden. Sie werden uns zu Partnern. So wie uns jetzt Jonas oder Steiner oder Beuys, Dahrendorf, Helmut Schmidt oder Marion Dönhof, Frisch oder Böll zu Partnern wurden. So wie wir einander hier bereits in dieser aphoristischen Gesprächseinleitung zu Partnern wurden.

Das ist der Kern der Sozialen Plastik: die Bezugnahme – und sie liebt Reflexion und Erinnerung (Referenzen)!

Das ist der Kern der Zivilgesellschaft, dass wir beginnen, uns einander aufmerksam zu machen auf bestimmte Dinge in der und durch die Reflexion. Ich habe wenig Interesse, Ihnen jetzt irgendeine Weisheit zu vermitteln oder Ihnen zu sagen, wo jetzt die Lösung gegenwärtiger sozialer oder sonstiger Probleme liegt und wo das Morgen seine alleinige Sinngebung finden wird. Ich bin kein Heilsverkünder. Aber ich würde gerne berichten dürfen – und das habe ich jetzt einleitend getan – von den Dingen, die mir spontan wichtig erscheinen, wenn ich das Problemfeld „Reflexion, Erinnerung, Bürgerfreiheit, Bürgerverantwortung“ angehe.

Das sind so ein paar Brocken, die ich Ihnen gerne hinwerfen möchte für unser Gespräch, denn wir brauchen und müssen auch in dieser Zivilgesellschaft gemeinsame Referenzen bilden. Und diese Referenzen sind immer Plural. Da gibt es immer mehrere. Es gibt nicht nur eine. Es glauben heute immer weniger daran, dass die Welt in einer Weise verstanden oder gedeutet werden kann. Da sind zu viele andere, von denen wir wissen, die wertvolles Gedankengut in sich haben, wertvolle Erfahrungen gemacht haben, und die tragen wir irgendwie zusammen in unserem reflektierten Bewusstsein.

Und in diesem Rahmen sehe ich auch Deine beiden, liebe Shelley, Deine beiden großen Fragen hier für den „Ort des Treffens“: "Was ist das eigentlich für eine Welt, für eine Erde, auf der ich bin?" und "Was möchte ich eigentlich in ihr tun?".

Es ist die Frage nach der Erzählung, der Darstellung, dem Sehen und Begreifen der Welt wie sie ist – und die Frage nach der Nachahmung, dem selbst tun, dem Hervorbringen einer neuen Welt – und beide fließen zusammen in der tätigen Reflexion, die wir auf einmal in solchen Momenten, in solchen ausgesonderten, runden, gelben Momenten haben, wo wir uns besinnen können. Das ist vielleicht Sinn des Projekts „Ort des Treffens“.

Letzte Änderung: 20 03 2010